Scharia und Grundgesetz?
Besonderheit des Grundgesetzes
Das Grundgesetz ist ein ganz besonderes Werk, weil es den Menschen vor dem mächtigen Staat schützt, dem Einzelnen Freiheiten ermöglicht. Und der Staat hat dafür zu sorgen, dass die Rechte eines jeden Menschen nicht eingeschränkt werden. Gleichzeitig wird der Mensch an die Gemeinschaft gebunden. Mit dem Grundgesetz können sich Christen einverstanden erklären, weil es das Ergebnis jahrtausendalten Ringens auf der Basis des christlichen Glaubens ist. Von daher haben sie keine grundsätzlichen Schwierigkeiten mit dem Grundgesetz.
Moderne Weltanschauungen und das Grundgesetz
Menschen entfremden sich vom Christentum und fragen: Passt das Grundgesetz noch zu meiner Weltanschauung? Manche möchten den Gottesbezug entfernen, weil sie darin eine Verbindung von Staat und Kirche erkennen. Es wird die Würde des Menschen neu interpretiert, um Abtreibungen oder weitergehende Eingriffe in das Leben der Menschen zu ermöglichen (PID). Oder das traditionelle christliche Eheverständnis wird abgelehnt. Aussagen des Grundgesetzes werden in Frage gestellt, weil die damit verbundene christliche Weltanschauung nicht von jedem akzeptiert wird.
Scharia und/oder Grundgesetz?
Die Frage nach dem Grundgesetz wird auch gestellt, weil Menschen anderer Kulturen in unserem Land leben. Sie leben nicht aus der christlichen Tradition – sie haben darum andere Grundlagen für das Zusammenleben. Sie diskutieren: Sollen wir das Grundgesetz annehmen? Sollen wir unserer Tradition treu bleiben? Passen unsere Grundlagen und das Grundgesetz zusammen? Und so gibt es muslimische Gruppen in unserem Land, die darüber diskutieren: Scharia – oder Grundgesetz?
Was ist die Scharia? Die Scharia ist ein Regelwerk, das Gelehrte aus der heiligen Schrift des Islam, dem Koran, und der Sunna herausgearbeitet haben. Als Sunna werden Texte bezeichnet, die Erinnerungen an das Leben Mohammeds und seiner Worte bewahrt haben. Koran und Sunna sind die Grundlagen muslimischen Glaubens und Verhaltens, die den Alltag bis ins Detail regeln, denn mit ihnen ist den Muslimen Allahs Grundgesetz gegeben. Weil unterschiedliche Gelehrtengruppen die Scharia erarbeitet haben, wird gesagt, dass es nicht die Scharia gibt, sondern jeweils modifizierte Formen. Von daher wird auch nicht jede Gruppe, die die Frage stellt: Scharia oder Grundgesetz die gleiche Antwort geben.
Die Scharia wird in unserem Land angewendet, wenn zum Beispiel ein muslimisches Ehepaar aus dem Iran nach Deutschland kommt, dann wird im Kontext der Scheidung entsprechend des muslimischen Gesetzes im Iran Recht gesprochen. Oder wenn ein Mann mit mehreren Frauen nach Deutschland kommt, dann wird die Ehe akzeptiert, obgleich sie unserem Verständnis von Ehe widerspricht. Das regeln internationale Übereinkommen. Oder es wird Halal-Fleisch angeboten, was nach dem Recht des Tierschutzes nicht erlaubt ist. Tiere ohne Betäubung zu schlachten ist wegen Tierquälerei verboten, wird aber durch Ausnahmegenehmigung ermöglicht. Oder muslimische Gruppen regeln Auseinandersetzungen im traditionellen Sinn unabhängig von deutschen gesetzlichen Vorgaben.
Weil jedoch auch einzelne Gesetze unseres Landes mit der Scharia übereinstimmen, meinen manche, dass es zwischen Scharia und Grundgesetz keine Unterschiede geben würde. Wie jedoch Rechtsprechungen in islamischen Ländern zeigen oder auch die genannten Beispiele, gibt es einerseits Berührungspunkte und andererseits Unvereinbarkeiten.
Es ist zunächst eine Frage, die innermuslimisch geklärt werden muss: Was ist eigentlich unter Scharia zu verstehen? Wieweit sind ihre Vorgaben gesetzlich zu beachten? Zurzeit ist es so, dass die Gruppen, die in der Öffentlichkeit dominant auftreten, die Definition von „Scharia“ und ihr Verhältnis zum Grundgesetz vorgeben. Vielfach auch so vorgeben, dass es die nichtmuslimische Bevölkerung akzeptieren kann. So haben sich muslimische Verbände Hamburgs zu den „Grundwerten des Grundgesetzes“, der Gleichberechtigung der Geschlechter, gegen Diskriminierung und Gewalt, bekannt. Wie das jeweils im Alltag umgesetzt wird, wird sich zeigen.
In der Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime von 2002 heißt es: „Ob deutsche Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit. Daher akzeptieren sie auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben.“ (Punkt 11) Freilich hat ein paar Jahre später die Islamkonferenz gezeigt, dass Vorbehalte gegenüber den Werten des Grundgesetzes bestehen. Und das muss vom islamischen Verständnis her auch so sein, denn der Scharia, welcher Art auch immer, steht ein theokratisches Modell vor Augen: Die Menschen haben sich an Allahs Gesetz zu orientieren. Dass dem so ist, wird dadurch bestätigt, dass die UN-Menschenrechtscharta von arabischen Staaten neu formuliert worden ist, eben mit dem Vorzeichen: Scharia. Die Arabische Charta der Menschenrechte formuliert durch den Bezug auf die Kairoer Menschenrechtserklärung, dass die Rechte und Freiheiten dann eingeschränkt werden dürfen, wenn dies gesetzlich (also von der im jeweiligen Staat anerkannten Scharia) vorgesehen ist.
Muslime in Deutschland grenzen sich vielfach von Muslimen in anderen Ländern ab. Aber dennoch: Wie die oben genannte Grundsatzerklärung des Zentralrats unter Punkt 8. deutlich ausspricht, ist die Solidarität der Muslime weltweit eine Selbstverständlichkeit – und die Interpretationen der Gelehrten in arabischen Staaten sind zurzeit für das weltweite Verständnis dessen, was Scharia und Islam ist, maßgeblich.
Insgesamt ist es spannend zu beobachten, wie muslimische Gruppen mit dem Grundgesetz umgehen: Wieweit wird ein Spagat versucht zwischen traditioneller muslimischer Sichtweise und Grundgesetz, wieweit wird versucht, das Grundgesetz aus muslimischer Sicht neu zu interpretieren, wieweit wird Deutschen vorgeworfen, dass sie selbst das Grundgesetz nicht richtig verstehen, wieweit wird Scharia im Licht des Grundgesetzes neu interpretiert, wieweit ist das Grundgesetz vollkommen irrelevant? Wie auch immer sie das Verhältnis bestimmen: Letztendlich profitieren die unterschiedlichsten muslimischen Gruppen von der Freiheit, die ihnen das Grundgesetz ermöglicht.
Einstehen für das Grundgesetz
Wer in unser Land kommt, hat die Grundlagen unseres Landes zu akzeptieren. Doch wir leben in einer Gesellschaft, in der – und das ist ihre Stärke – immer über Werte diskutiert werden wird, eine Gesellschaft, die nicht erstarrt. Von daher müssen auch Menschen anderer Weltanschauungen ihre Ansichten einbringen und um Mehrheiten werben. Andererseits sollte das auch allen, die die Bedeutung des Grundgesetzes erkennen und anerkennen, Ansporn sein, offen für die Werte, die es vertritt, einzustehen. Wenn das nicht getan wird, besteht die Gefahr, dass unsere Gesellschaft in Richtungen abdriftet, die vom Grundgesetz nicht gedeckt sind.