Die meisten Menschen – so vermute ich – sind nicht in der Kirche, weil sie eine tiefe Beziehung zu Gott haben, sondern weil sie von der Kultur, die das Christentum mit hervorgebracht hat, überzeugt sind. Viele schicken ihre Kinder in den Religions- und Konfirmandenunterricht, damit sie mit unserer traditionellen Ethik verbunden werden, viele gehen in die Konzerte, weil sie christliche Musik bewundern und von ihr gestärkt werden möchten; Menschen strömen in Museen – und empfinden dort eine Beziehung auch zu christlicher Kunst, in Scharen besuchen sie große Kirchen, um ein wenig von dieser großen Tradition ergriffen zu werden. In Klöstern suchen sie Ruhe, weil sie um die Errungenschaften der Mystik in den Klöstern wissen…
Unsere christliche Kultur hat Großes geleistet – und auch dann, wenn man nicht besonders gläubig ist, weiß man sich ihr doch verbunden – und das vor allem auch dann, wenn man von anderen Kulturen erfährt, die zu unseren großen Traditionen im krassen Gegensatz stehen oder zumindest exotische Sitten hat, die wir nicht akzeptieren können oder wollen (Tieropfer bzw. insgesamt schlimmen Umgang mit Tieren, Menschenzüchtigungen und -erniedrigungen, Sexualpraktiken…) oder eben andersherum, es bewundern, was es an Kunst, Philosophie, Technik, Wirtschaft, Recht und Wissenschaft gibt, die man in anderen Kulturen mit der Lupe suchen muss. Menschen fühlen sich unserer christlichen Kultur verbunden – auch wenn sie Gott selbst nicht erfahren haben.
Wenn Menschen hierfür offen sind, darf man ihnen Vorwerfen, dass sie “gottlos” sind? Darf man ihnen daraus einen Strick drehen, dass sie unsere christliche Kultur bewundern? Das ist eine immense Heuchelei, vor allem, weil auch die Kirchen nicht abgeneigt sind, die Menschen über diese unsere Kultur anzusprechen, sie zu erreichen.
Zudem: Diese unsere christliche Kultur – ist nicht allein Kirchenkultur. Sie ist auch außerhalb der Kirche und gegen die Kirche entstanden. Diese Stränge bilden eine Einheit – und das macht die Größe und Bedeutung unserer Kultur aus. Eine Kultur, die allein kirchlich wäre, würde formelhaft erstarrt sein. Kirchen wurden auch von der Kultur geprägt, die in Auseinandersetzung mit ihr entstanden ist. Aber: Selbst dann, wenn sie gegen und außerhalb der Kirche entstanden ist, sich also von kirchlichen Vorgaben emanzipiert hat, steht sie doch in der Tradition dieser christlichen Kultur. Das macht ihre Größe aus – bedeutet aber auch gleichzeitig, dass Kirche sich nicht als Herrin über die Kultur unseres Europas aufspielen darf – aber auch die Gegner und Kritiker der Kirche nicht.