Wenn manche über unsere „Leitkultur“ nachdenken, kommen sie zu dem Schluss: Es gibt keine. Es gibt so viele unterschiedliche Kulturen, auch Traditionen in unserem Land, dass man von Leitkultur nicht sprechen könne. Richtig. Nur: Wenn man in einem islamischen Land ist oder in Indien oder in einem afrikanischen Land, dann sieht die Kultur anders aus. Woran liegt das? An der unterschiedlichen Kultur. Man muss das Gesamte in den Blick bekommen: Pädagogik, Esssitten, Glaube, Kunst, Literatur, Philosophie, Verhaltensweisen, Kleidung… Je mehr man kennt, desto mehr zerfließt die Einheit – aber gleichzeitig bekommt man im Vergleich mit anderen Kulturen eine Ahnung von der Besonderheit der eigenen Kultur und der anderen Kultur. Freilich, unsere Kultur hat auch Schattenseiten, hat Negatives bewirkt. Doch welche Kultur nicht? Kultur ist nicht zu lösen von der grundlegenden Selbstentfremdung des Menschen. Aber dass Menschen sich aus diesen dunklen Seiten immer wieder herausarbeiten können, ist wiederum durch die Kultur geprägt worden und prägt sie. Darum: Man darf sich seine eigene Kultur nicht madig machen lassen, auch wenn sie noch so viele dunkle Flecken hat – anderen geht es nicht besser, wohin wir auch schauen: Islam, China, afrikanische Stämme, Mayas und, und, und.
Als Grundlage unserer Kultur werden die griechisch-römische Antike, das Judentum und Christentum und die Aufklärung genannt. Wie das? Kultur fällt nicht vom Himmel. Unsere Kultur steht auf den Schultern des Judentums, der Griechen und der Römer – und das überwiegend durch die Brille der Christen Mitteleuropas betrachtet. Somit sind noch Traditionen der germanischen und sonstigen Stämmen Mitteleuropas ein wenig vorhanden. Die germanischen Christen und die Christen anderer mitteleuropäischer Stämme haben diese gefiltert, haben sie auf ihre Weise weitergeführt. Dann gab es große Umwälzungen: so die für unsere Kultur sehr wichtigen Gründungen der römisch-katholischen und iro-schottischen Klöster, die Wirksamkeit der Vorreformatoren und Reformatoren. Sie haben sich auf die neutestamentlichen Texte besonnen und haben somit der europäisierten Kirche – und damit unserer Kultur – wieder neue Impulse gegeben. Diese neuen Impulse wurden unter großen Schmerzen erkauft (Kämpfe, Kriege) und führten zu der Aufklärung. Auch die Aufklärung ist nicht vom Himmel gefallen – sie greift auf diese christlichen Traditionen zurück (weil die Aufklärer ja auch in irgendeiner Form christlich sozialisiert waren) und sucht darüber hinaus neue Impulse in der Philosophie der Antike. Und diese Traditionen, Impulse, Weiterführungen bilden unsere kulturelle Grundlage. Kultur ist wie ein Teppich, gewebt aus unterschiedlichsten Fäden und Farben. Sie bilden eine Einheit, in die ständig neue Fäden und Farben eingewoben werden. Dennoch kann man im Vergleich zu anderen Kulturen ganz deutlich sagen: Dieser Faden, diese Farbe passt (noch) nicht dazu.
Nun heißt es immer, Kirchen und Aufklärung gehören nicht zusammen. Das Christentum ist nicht die Kirche. Viele Pfarrer (und auch Priester) waren beteiligt an der Verbreitung der Aufklärung, viele Glaubende waren beteiligt an ihrer Weiterentwicklung. Dass sich Gruppen gegen bestimmte Tendenzen der Aufklärung wandten, heißt nicht, dass sie vom Christentum losgelöst betrachtet werden kann. Im Gegenteil. Es macht keinen Sinn zu sagen: Der Papst XY war gegen die Aufklärung usw. Denn: Welchen alltäglichen Beitrag leisteten andere Christen zur Verbreitung der Aufklärung? Zum Beispiel die Pietisten, Theologen, christliche Philosophen, Mediziner und Lehrer. Man kann auch Aufklärung nicht aus der vorangegangenen Geschichte herauslösen. Sie steht genauso auf den Schultern der vielfältigen Tradition wie vorangegangene Zeiten.
Nun haben wir unsere Kultur als einen Teppich beschrieben, der aus vielen Fäden und Farben gewebt wurde. Andere Kulturen bevorzugen wieder andere Farben und Fäden. Nehmen wir den Islam. Auch er steht auf den Schultern des Judentums und Christentums. Doch Mohammed hat beide durch seine Brille gefiltert. Spätere Gelehrte, ob sie nun im Islam anerkannt waren oder nicht, haben auch Traditionen griechisch-römischer Antike eingewoben – aber eben aus der Perspektive Mohammeds und der ihm folgenden arabischen Gruppen. Diese Fäden entsprechen nicht unbedingt den Fäden unserer europäischen Kultur. Warum nicht? Korrektur waren für unsere Kultur häufig Jesus (wie er im Neuen Testament dargestellt wurde) und antike Philosophen. Mohammed hat durch die Sanktionierung des Korans seine Nachfolger mehr oder weniger von neuen Einflüssen hermetisch abgeriegelt. Doch im Kontakt der Kulturen zueinander geschieht es, dass der Islam Fäden in unseren europäischen Teppich einwebt wie auch wir Europäer, Christen oder Nichtchristen, unsere Fäden in den islamischen Teppich einweben. Die Frage ist nur immer – und die stellen sich freilich auch Muslime und nicht allein die Europäer: Soll unser Teppich einmal ganz anders aussehen? Wie wollen wir, dass unser Teppich aussieht – wie soll er auf keinen Fall aussehen? So hat es sich geschichtlich ergeben, dass unser europäischer Teppich, geknüpft aus Fäden der europäischen Antike, dem Judentum, dem Christentum und der Aufklärung manche andere Fäden nicht verträgt ohne zu zerfallen. Das Entsprechende sagen Muslime. Da wir nicht in die Zukunft blicken können, tut jeder das Seine, um seinen Teppich zu erhalten: Welchen anderen Faden wollen und können wir einfügen, welchen nicht. Irgendeine Gruppe wird sich durchsetzen – nicht rein durchsetzen, weil ja wieder die kulturellen Fäden der anderen Gruppe durch bestimmte Farben neu gefärbt werden. Und da ich meine Kultur liebe, die aus Schmerzen und Leiden, aus Denken und Hoffnungen, aus Glauben und Liebe geboren wurde, beschäftige ich mich immer mehr mit ihr – und will sie nicht durch andere Weltbilder vollständig ersetzt wissen. Um der Menschen willen. Christen waren immer gut im Adaptieren von anderen Traditionen, denn Paulus schreibt: Prüft alles, das Gute behaltet. Doch was ist für Christen bzw. unsere Gesellschaft gut? Das entscheidet der Glaube an Jesus Christus bzw. unsere Kultur – wie sie im Grundgesetz und in den Menschenrechten zusammengefasst wurde.